Wolfgang Niedecken in Morlitzwinden. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Tina Niedecken/dpa)

Vorsichtig stapft Wolfgang Niedecken in Gummistiefeln über die regendurchtränkte Wiese und blickt auf das ansteigende Gelände. Kuhfladen liegen im Herbstlaub, Reifenspuren durchziehen den Morast. Besonders denkwürdig sieht es hier eigentlich nicht aus.

«Ich kann mich noch total an diesen Ort erinnern», sagt Niedecken. Hier, in Morlitzwinden, schrieb der Kölner Musiker 1981 den Klassiker «Verdamp lang her» – am Rosenmontag. Das Lied wurde zur bundesweiten Hymne der Gruppe BAP und machte das mittelfränkische Dorf mit 32 Einwohnern über Nacht zu einem Ort deutscher Musikgeschichte.

42 Jahre später ist Niedecken mit Frau Tina am Rande einer Tournee zu Besuch bei Erika Leitel. Die 68-Jährige ist in dem Bauernhaus neben der Wiese aufgewachsen und weiß noch genau, wie es war – damals. «Als der Wolfgang auf der Obstwiese saß, habe ich nur Musikfetzen gehört und sowieso kein Wort Kölsch verstanden», erzählt Erika Leitel und lacht. «Da habe ich gedacht: Wenn er es nicht kann, soll er es halt lassen.» Die Bäume von damals stehen noch, ein letztes Mal vor dem Winter scheinen die verbliebenen Blätter an diesem Tag zu leuchten.

In Köln startet die Tournee

Niedeckens Herbstbesuch ist ein Treffen mit Freunden («Die kennen mich, als ich noch gar nichts war») – und eine Zeitreise. So heißt auch die Tournee, die am 7. Dezember in Köln beginnt und 2024 durch Deutschland, die Schweiz und Benelux führt. BAP spielt dabei alle Titel der Alben «Für usszeschnigge!» (1981) und «Vun drinne noh drusse» (1982) – natürlich mit «Verdamp lang her». Auf den Platten wird Grundsätzliches verhandelt: Religion, Krieg, Liebe. Für Fans dürfte es eine Expedition zu einem besonderen Lebensabschnitt werden.

Andere Künstler arbeiten mit 72 Jahren am Spätwerk – Niedecken präsentiert sein Frühwerk. Warum? «Als Wladimir Putin mit seiner Teil-Mobilmachung kam, spielten wir nach längerer Zeit ‚Zehnter Juni‘ mit der Zeile ‚Plant mich bloß nicht bei euch ein‘ für all die jungen Russen, die vor diesem Krieg ins Ausland geflohen sind.

Wir waren erschrocken, wie aktuell das Stück ist», sagt er. «Du merkst auf der Bühne, wie das Publikum staunt: ‚Die spielen das tatsächlich nochmal!‘.» Zeitreise, Zeitgeist, Zeitenwende. Die vor Jahrzehnten entstandenen Lieder will BAP ohne Kitsch und Nostalgie präsentieren.

«Ich bin ich geblieben»

Nach vielen Umbesetzungen ist Bandchef Niedecken der Einzige, der auf den Alben von 1981/82 mitgespielt hat. Wie hat er sich verändert? Was ist aus den Träumen, den Ängsten, dem Rock’n’Roll geworden? «Ich bin 40 Jahre älter, habe einen Bart, aber aus mir heraus schaue ich mit dem gleichen Wesen», sagt er. «Ich weiß gar nicht, ob ich mir vorgenommen habe, so zu bleiben, wie ich damals war. Natürlich bin ich nicht mehr so naiv. Ich habe einige Verletzungen davongetragen, sowohl in der Familie, als auch in der Band. Sowas ist schmerzhaft.»

Niedecken überlegt und wirkt ernst. «Ich bin ich geblieben.» Der Satz steht in der herbstkalten Luft. «Das kann ich wirklich behaupten.»

Bei «Verdamp lang her» ist Niedecken ganz bei sich. Die Vergangenheit spielt keine Rolle, die Zukunft interessiert noch nicht. Der Hit mit Mitsinggarantie ebnete der rheinischen Regionalband BAP den Weg in die nationale Spitze. Dabei hat das knapp sechs Minuten lange Lied einen bedrückenden Hintergrund. «Ich bin 1981 vor dem damals noch schrecklich spießigen Kölner Karneval geflohen und kannte Morlitzwinden von einem Urlaub im Sommer davor», erzählt Niedecken.

Fiktives Gespräch mit seinem Vater

«1980 saß ich da unter den Bäumen und schrieb zwei Lieder für BAP. Bei der Karnevalsflucht 1981 habe ich dann bei Schneespaziergängen an meinen gerade gestorbenen Vater gedacht. Wir sprachen am Ende nicht mehr viel miteinander. Irgendwann war es zu spät. Daraus entstand ‚Verdamp lang her‘ – ein tieftrauriges fiktives Gespräch mit ihm.»

An diesem Tag Ende Oktober spazieren Wolfgang und Tina Niedecken mit Erika Leitel und Niedeckens Hündin Numa am schiefen Ortsschild vorbei, passieren Felder mit abgeerntetem Korn. «Tatortbegehung» nennt Leitel augenzwinkernd den Gang zu den Plätzen von 1980/81.

«Ich habe es irgendwie geschafft, durch mein Leben traumzutanzen», sagt Niedecken. «Ich habe mich auch nie hängenlassen. Ich habe einen unverwüstlichen Gestaltungswillen, ob als Maler oder als Musiker.»

Vor 40 Jahren seien die Umstände andere gewesen. «Wenn du den Deckel in der Kneipe bezahlen konntest, Sprit im Tank hattest und etwas zu essen im Kühlschrank – mehr brauchten wir nicht. Das hört auf, wenn du eine Familie hast. Ich habe diese Gedanken immer weggeschoben.»

Statt Verantwortung zu übernehmen, sei man etwa nach Amsterdam gefahren. «Auf dem Flohmarkt verkaufte ein Typ die hektografierten Texte von Dylan, den Rolling Stones und den Beatles. Wir haben eine Nacht im Auto geschlafen und sind tags darauf triumphierend mit diesen Heften heimgefahren. Ich habe die heute noch.»

Nach vier Stunden fahren Wolfgang und Tina weiter. Erika Leitel und ihr Mann Helmut winken, bis das blaue Auto in der sanften Hügellandschaft verschwindet. Zurück bleibt das Gästebuch mit Niedeckens Eintrag: «Bess demnähx». Spätestens, wenn BAP auf der «Zeitreise»-Tour im nahen Nürnberg spielt, will man sich wiedersehen.

In mehr als 40 Jahren habe sich Niedecken natürlich verändert, sagt Erika Leitel. «Äußerlich, ja. Aber in seinem Wesen ist er derselbe geblieben, der damals klimpernd unter dem Pflaumenbaum saß.»

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