«Der letzte Sessellift» ist ein Konzentrat von John Irvings Schriftstellerei. (Urheber/Quelle/Verbreiter: picture alliance / dpa)

John Irving schreibt gern lange Romane, in denen immer viel passiert: Sex zwischen älteren Frauen und jüngeren Männern, Inzest, Söhne, die auf der Suche nach unbekannten Vätern sind. Sein jüngstes Werk «Der letzte Sessellift» macht da keine Ausnahme.

Im Gegenteil. Sein 15. Roman ist über 1000 Seiten lang und wieder eine dichte Familiensaga mit viel Sex. Ein unverkennbarer Irving-Roman, der sich dennoch von seinen anderen Werken unterscheidet – nicht nur, weil es sein letzter langer Roman sein soll.

Reise durch viele Jahrzehnte

«Der letzte Sessellift», im Original «The Last Chairlift», ist die Geschichte von Adam Brewsters Leben und Familie von den 1940er Jahren fast bis heute. Seine Mutter, Little Ray, ist Skilehrerin, die ihm nicht verrät, wer sein Vater ist. Was wir gleich zu Beginn erfahren ist, dass sie 1941 als 18-Jährige in der Kleinstadt Aspen in dem US-amerikanischen Bundesstaat Colorado an den nationalen Abfahrts- und Slalom-Meisterschaften teilnahm. Doch statt mit einer Medaille kehrte sie schwanger in ihre Heimat New Hampshire zurück.

Die Reise geht durch fünf weitere Jahrzehnte in dichten Handlungssträngen – von Exeter, wo auch Irving 1942 geboren wurde, über New York bis Toronto, wo der amerikanisch-kanadische Autor heute lebt. Sie spielen vor dem politischen Hintergrund der Aids-Krise unter Präsident Reagan und dem langsam wachsenden Hass und der Intoleranz gegenüber Homosexuellen.

Es ist ein hemmungsloser Kuss, der zum Dreh- und Angelpunkt von Irvings Geschichte wird. Im Alter von 13 Jahren drückt ihn seine sportliche Mutter auf sein Bett und gibt ihm einen inzestuösen Kuss, der ihn völlig verstört und viele Fragen in ihm auslöst. Dann verkomplizieren sich die Dinge: Wir entdecken, dass seine Mutter mit Molly zusammenlebt, einer Pistenpflegerin, jedoch eine Vernunftehe mit einem sieben Jahre jüngeren Englischlehrer eingeht, der sein Geschlecht ändert. Im Verlauf des Romans treffen wir auch Adams Großeltern, seine Tanten, seine Onkel und seine Freundinnen.

Ein klassischer Irving

«Der letzte Sessellift» ist eine unverkennbare Irving-Geschichte mit wiederkehrenden Themen, tragikomischem Ton, schwarzem Humor und markanten Charakteren. Es geht um Kampf, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Gewalt, Verlust und Familiengeheimnisse. Und immer wieder brechen über das Leben der Romanfiguren Schicksalsschläge und Katastrophen herein: Adams Vater wird von einem Blitz getroffen, bei einem antifeministischen Anschlag kommen 14 Frauen ums Leben.

Irving vermischt gerne Fiktion und Autobiografie. In fast allen seinen Romanen taucht ein Kind auf, das nicht alles über seine Familie oder die Umstände seiner Geburt weiß – so wie er, der seinen leiblichen Vater nicht kannte. Seine Protagonisten sind gern Schriftsteller und die Kleinstadt Exeter einer seiner bekannten Roman-Schauplätze.

Und wenn es in seinen Romanen immer wieder um LGBTQIA+-Themen geht – die Abkürzung steht für für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle/Transgender-, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen – dann deshalb, weil er mit einer lesbischen Schwester und einem schwulen Bruder aufwuchs, denen Hass, Diskriminierung und Anfeindungen entgegenschlugen.

Nahezu alle sind queer

Dennoch unterscheidet sich sein neuer Roman von seinen anderen: Nahezu alle Menschen seien queer, bis auf Adam, sagte er in einem Interview der «Kleinen Zeitung». «Ich habe das Ganze aber umgedreht, und die queeren Menschen sind alle «normaler» als Adam», erklärte er. Denn Adam als vermeintlich «normaler» Cis-Hetero-Typ lege sexuell das seltsamste Verhalten an den Tag.

Irving hat 14 Romane geschrieben, die fast alle zu Bestsellern wurden. Mit «Garp und wie er die Welt sah» schaffte er 1978 seinen überwältigenden Durchbruch, «Gottes Werk und Teufels Beitrag», das 1985 erschien, wurde 1999 sogar verfilmt. Das Drehbuch dazu schrieb er selbst, wofür er mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.

Mit 81 Jahren hat er nun sein letztes langes Werk geschrieben, wie er der kanadischen Zeitung «Toronto Star» sagte. Womöglich auch sein letztes schlechthin: Denn «Der letzte Sessellift» ist ein Konzentrat seiner 40-jährigen Schriftstellerei. Dazu passt auch die Länge des Romans.

John Irving: Der letzte Sessellift. Aus dem Amerikanischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg, Diogenes Verlag, Zürich 2023. ISBN 978-3-257-07222-8. Gebunden, 1088 Seiten, 36,00 Euro

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