Lena Schwarz (l) und Yodit Tarikwa in einer Fotoprobe von Schnitzlers «Reigen» in Salzburg. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Barbara Gindl/APA/dpa)

Sexualität ist seit der Uraufführung von Arthur Schnitzlers «Reigen» vor rund hundert Jahren komplizierter und politischer geworden. Das ist eine der Botschaften der zehn bekannten Autorinnen und Autoren, die für die Salzburger Festspiele die ebensovielen Szenen des Klassikers vom Wien des frühen 20. Jahrhunderts in die globale Gegenwart holen.

Während Schnitzlers Figuren fast alle zur Sache kamen, wird in der neuen Version vor allem über Beziehungen geredet: Per Videoschalte, in der Künstlergarderobe oder auch vor Gericht. Das Stück, an dem unter anderem Sofi Oksanen, Leïla Slimani und Sharon Dodua Otoo mitgeschrieben haben, wurde bei der Premiere am Donnerstag trotz der hohen Qualität des Schauspielensembles nur mit höflichem Applaus bedacht. Einige Gäste – fast durchwegs ältere Männer – verließen die Inszenierung von Yana Ross vorzeitig.

Die Stärke des Originals lag in seiner Mechanik, die wie ein Uhrwerk ineinandergreift: Entlang der gesellschaftlichen Stufenleiter treibt es die Dirne mit dem Soldaten, der Soldat mit dem Stubenmädchen, und so weiter, bis zur Schauspieldiva und dem Grafen, der wiederum auf die Dirne trifft. Der neue «Reigen» löst diese Strenge auf – wohl auch, weil Sexualität heute ein breiter gefächertes Thema ist.

Originelle Aktualisierungen

Ross lässt das Ensemble des Schauspielhauses Zürich in einem eleganten Restaurant mit dickem Teppichboden und Spiegeldecke agieren. Die Darstellerinnen und Darsteller sehen dem Festspielpublikum verdächtig ähnlich – vom glitzernden Haarschmuck einer Dame bis zu Herren mit Kaschmirpullovern über den Schultern und roten Socken in Slippern.

Doch der Schein trügt: Gleich zu Beginn entlädt die österreichische Autorin Lydia Haider einen barocken Schwall von Fäkalsprache. Überhaupt liegt der Fokus des Stücks weniger auf Sexualität an sich, als auf verbaler Gewalt, Entfremdung, ermüdenden Beziehungen und wirtschaftlicher Abhängigkeit.

Die Originalcharaktere wurden äußerst aktuell übersetzt. Die finnisch-estnische Starautorin Oksanen machte aus Schnitzlers Soldaten und Stubenmädchen eine Essensbotin (Tabita Johannes) und einen Online-Troll (Urs Peter Halter) im russischen Informationskrieg gegen den Westen. Während im Original ein junger Herr sein Stubenmädchen zu Sex drängt, wird bei der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Slimani daraus ein Missbrauchsprozess.

Kritik an Sponsoren

Der Schweizer Georg-Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss nutzt Schnitzlers Szene zwischen Graf und Dirne für einen Seitenhieb auf die Salzburger Festspiele: In seinem Dialog zwischen einem Geist (Sibylle Canonica) und einem Kulturmäzen (Michael Neuenschwander) ist von Metallen wie Nickel die Rede – ein Hinweis auf das Schweizer Rohstoffunternehmen Solway, von dem sich das Festival kürzlich als Sponsor trennte. Bärfuss und Ross hatten diesen Schritt wegen Umwelt- und Menschenrechtsvorwürfen gegen Solway gefordert.

Zwischen den Szenen wird ein Kurzfilm des russischen Exildramatikers Michail Durnenkow eingeblendet, in dem sein Alter Ego bewegend von der Flucht aus Russland und der Verfolgung von Homosexuellen erzählt.

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