Selma van de Perre war Widerstandskämpferin. Sie erinnert sich in einem Buch an die NS-Zeit. (Urheber/Quelle/Verbreiter: --/btb/Pengiun Randomhouse/dpa)

Weit mehr als eine Million Tote im Konzentrationslager Auschwitz: Wer sich heute etwa in der Schule erstmals mit dem Holocaust beschäftigt, kennt die Zahlen. Er liest, dass am Ende des Zweiten Weltkriegs circa sechs Millionen europäische Juden tot sind.

Es sind monströse Zahlen, die der Verstand zwar registriert und häufig doch kaum erfasst. Wer die nun erschienenen, verstörenden Erinnerungen der niederländischen Widerstandskämpferin Selma van de Perre liest, für den sind die abstrakten Fakten auch rund 75 Jahre nach dem Holocaust sehr greifbar. Für den Leser ist unter den eine Million Toten in Auschwitz auf einmal «Pa» und unter den sechs Millionen toten europäischen Juden sind «Clara» und «Mams».

Selma van de Perre ist heute 98 Jahre alt. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist sie 17. Sie lebt mit ihren Eltern, ihrer kleinen Schwester Clara und den großen Brüdern in den Niederlanden in Amsterdam. Die Familie ist jüdisch, aber da die Religion nicht praktiziert wird, hat das in ihrem Alltag kaum Bedeutung. Van de Perre hat zahlreiche nicht-jüdische Freunde, viele wissen noch nicht einmal, dass sie Jüdin ist.

Mit der Besetzung der Niederlande durch die Nazis ändert sich das Leben von Selma van de Perre nach und nach: Ihr Vater wird von der Familie getrennt. Wegen seiner jüdischen Herkunft kommt er in ein Arbeitslager. Die Brüder sind bei der Armee. Auch van de Perre wird zum Arbeitslager einberufen und kann dem nur knapp entgehen. Als das Leben für Juden in den Niederlanden immer drastischer eingeschränkt wird, tauchen die Mutter und die kleine Schwester auf Veranlassung von van de Perre bei einer Familie unter – nur für sie ist dort kein weiterer Platz. In den kommenden Jahren schlägt sie sich allein durch.

Was nun folgt, sind sehr schwierige Jahre, welche van de Perre nur durch Zufälle, ihrer wegen ihres jungen Alters guten körperlichen Verfassung und ihrem unbedingten Überlebenswillen übersteht. Viele ihrer Verwandten sollen weniger Glück als sie haben.

Die Menschen, bei denen sie zunächst unterkommt, arbeiten für den niederländischen Widerstand und nach und nach ist auch die Anfang 20-Jährige in die Aktivitäten eingebunden. Unter dem Pseudonym «Margareta van der Kuit» überbringt sie als Botin Dokumente in den ganzen Niederlanden.

«Jeden Tag tat ich Dinge, bei denen ich mein Leben aufs Spiel setzte, aber ich erledigte sie, wie ich alles Alltägliche erledigte», schreibt sie darüber. «Das soll nicht heißen, dass ich keine Angst hatte, doch ich ließ mich nicht von der Angst überwältigen – der Wunsch, mich gegen die Nazis zu engagieren und Menschen zu helfen, die sich in Gefahr befanden, erwies sich als stärker.»

Später wird sie verraten und kommt schließlich 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück. Kälte, Hunger, Dreck: Unter furchtbarsten Bedingungen harrt sie dort bis Kriegsende als Zwangsarbeiterin aus.

Es sind oft die Geschichten, die fast wie nebenbei erzählt werden, die einen nur noch Grauen empfinden lassen. So hilft sie dabei, dass das Kind einer Bekannten, die gerade in einem jüdischen Krankenhaus entbunden hat, aus dem Krankenhaus zu einer Gastfamilie gebracht wird. So wird verhindert, dass die Kinder in Konzentrationslager kommen. Die Autorin schildert, wie die Aktion durchgeführt wird, ohne der Frau zunächst etwas davon zu sagen, weil sie darüber verzweifeln würde, dass sie ihr Neugeborenes gleich wieder verliert. Am Ende war es richtig – das Kind wird überleben, die Patienten in dem jüdischen Krankenhaus kommen dagegen in Auschwitz ums Leben.

Und immer wieder staunt man über den Mut dieser jungen Frau. In Ravensbrück ist alles darauf angelegt, sie zu entmenschlichen. Und doch lässt sie sich ihr Rückgrat nicht nehmen. Beim Zusammenschrauben von Material machen sie und ihre Mithäftlinge absichtlich Fehler – damit die hergestellten Produkte rasch kaputt gehen.

In den Niederlanden ist das Buch von van de Perre sofort nach dem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und das verwundert nicht. Zwar ersetzen ihre Erinnerungen keine historische Analyse. Und natürlich sind Erinnerungen auch immer anfällig dafür, dass manche Details vielleicht auch etwas anders gewesen sind. Doch der Schrecken dieser Zeit sowie die überaus mutigen Taten von Menschen im Widerstand hinterlassen einen tiefen Eindruck, der vermutlich länger hängenbleibt als viele Fakten.

«Wir wurden als gewöhnliche Menschen in außergewöhnliche Umstände geworfen», schreibt van de Perre an einer Stelle in dem Buch. Und das ist es, warum es vielleicht so gut funktioniert. Mit den vermeintlich gewöhnlichen Menschen in dem Buch fällt es nicht schwer, sich zu identifizieren.

– Selma van de Perre: Mein Name ist Selma – Erinnerungen einer Widerstandskämpferin und Holocaust-Überlebenden, btb Verlag, 221 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-442-75905-7.

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