Haruki Murakami vor dem Haus des dänischen Schriftstellers H. Chr. Andersen 2016 in Odense. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Henning Bagger/SCANPIX DENMARK/dpa)

Haruki Murakami kann auch kurz. Sein neues Buch «Erste Person Singular» ist vom Umfang her bescheiden. Die acht Erzählungen kommen auf gut 200 Seiten. Dabei ist der bedeutendste japanische Gegenwartsautor, der immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gilt, vor allem durch Romane («Tanz mit dem Schafsmann», «IQ84») bekannt geworden, die deutlich mehr Platz im Regal beanspruchen. Aber Murakami (72) hat schon mehrfach gezeigt, dass er ein genauso starker Erzähler ist, wenn es nicht um die Langstrecke geht. Das gilt auch für sein jüngstes Werk.

In den von Ursula Gräfe übersetzten Erzählungen verwischt die Grenze zwischen Realität und märchenhaft wirkenden Passagen regelmäßig. Manchmal gelingt Murakami das geradezu humoristisch: Eine Geschichte widmet der Autor, der einige Jahre lang selbst einen Jazz-Club hatte, der Jazz-Legende Charlie Parker. Über eine von dessen Platten aus dem Jahr 1963 schreibt der Ich-Erzähler als Student eine enthusiastische, aber fiktive Besprechung. Denn die angebliche Bossa-Nova-LP gibt es gar nicht – Parker war da schon lange tot.

Jahre später entdeckt der Erzähler in New York in einem Second-Hand-Plattenladen genau die Scheibe, über die er geschrieben hat: «Charlie Parker Plays Bossa Nova». Sogar die einzelnen Stücke stimmen mit denen überein, die er sich ausgedacht hatte. Wie kann das sein? Als er am nächsten Tag noch einmal hingeht, um sie kaufen, ist sie weg. Aber dafür erscheint Charlie Parker dem Erzähler im Traum und spielt auf dem Altsaxofon einen der Bossa-Nova-Titel für ihn.

Für Kafka-Bewunderer Murakami ist Wirklichkeit eben nicht das, was im Lexikon oder im Biologiebuch steht. Da kann in einer runtergekommenen Herberge auch mal ein betagter Affe auftauchen, der dort im Bad arbeitet und den Gästen seine Dienste anbietet. «Wünschen Sie, dass ich Ihnen den Rücken wasche?», fragt er freundlich.

Abends trinkt der Affe mit dem Erzähler noch ein Bier. Dabei erzählt er, dass er sich immer wieder in Menschenfrauen verliebt und eine ganz eigene Methode entwickelt hat, mit seinem Begehren umzugehen. Bei Murakami erscheint das so selbstverständlich wie die Tatsache, dass von dem Affen am Tag darauf keine Spur mehr zu entdecken ist.

Gemeinsam ist den Geschichten, dass es oft um Erinnerungen geht. In der allerersten des Bandes «Auf dem Kissen aus Stein» kann der Erzähler eine Gedichtsammlung nicht vergessen, die er von einer Frau geschenkt bekommen hat. Unter Murakami-typischen merkwürdigen Umständen: Als Student hat er kurze Zeit zusammen mit ihr in einem Restaurant gejobbt. Eines Tages will sie bei ihm übernachten.

Als sie zusammen im Bett sind, erzählt sie ihm von ihrer großen Liebe zu einem Mann, der sie immer nur anruft, wenn er mit ihr schlafen will. «Wie wenn man was zu essen bestellt.» Und sie warnt ihn, sie könnte beim Sex laut den Namen dieses anderen Mannes schreien.

Nach dieser einen Nacht sehen sich die beiden nie wieder, aber die Frau schickt ihm einen Band mit 42 Gedichten, die sie selbst geschrieben hat und von denen ihn einige sehr berühren. Es geht in ihnen um Liebe und Tod und immer wieder um Enthauptungen. Dass der Erzähler dafür nicht gleich eine einleuchtende Erklärung hat, ist ebenfalls typisch Murakami: Das überlässt er dem Leser.

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